Hören Sie nicht einfach auf Kunden: Fragen Sie Lead Users

Viele Firmen, halten sich schon deshalb für kundenorientiert und innovativ, weil sie regelmäßig Kundenanforderungen sammeln, mit Kunden sprechen, und gelegentlich die Kundenwünsche ihrer größten und bedeutendsten Abnehmer in ihren Produkten umsetzen.

Unkoordinierte Kundengespräche

In einem der letzen Beiträge bin ich auf Clayton Christensen eingegangen, und seiner Theorie der disruptive innovation (unterbrechende Innovation). Bereits dort ist angeklungen, dass es nicht immer ausreicht, nur auf die eigenen wichtigen Kunden zu hören – ja, dass es sogar manchmal gefährlich sein kann, sich isoliert auf Kundenanforderungen und die von ihnen favorisierten tragenden Technologien zu konzentrieren.

In diesem Beitrag behandele ich ein Lead UserKonzept. Bei genauerem Hinsehen stellt auch dieses Konzept eine Erweiterung der reinen Lehre von der bloßen Kundenorientierung dar.

Demokratisierte Innovation und Lead Users

Demokratisierte Innovation

Eric von Hippel befasst sich in seinem Buch Democratizing Innovation (2005, MIT) mit den Wurzeln von Innovationen.

„When I say that innovation is being democratized, I mean that users of products and services—both firms and individual consumers—are increasingly able to innovate for themselves. User-centered innovation processes offer great advantages over the manufacturer-centric innovation development systems that have been the mainstay of commerce for hundreds of years.“ – Eric von Hippel

Er identifiziert Lead User als eine kleine Gruppe von aktuellen, potentiellen oder nicht-Kunden, denen eine besondere Rolle im Innovationsprozess zukommt. Lead User sind der großen Nutzerschar weit voraus im Hinblick auf einen speziellen Trend, und ihr Bedürfnis, diesem Trend zu folgen.

Diese Nutzer erwarten sich einen so hohen Nutzen aus der Lösung ihrer speziellen Problemstellung, dass sie oft bereits zu einem Zeitpunkt eine passende Problemlösung entwickeln, zu dem es noch keine käuflich zu erwerbenden Lösung im Markt gibt.

Hieraus wird bereits deutlich, dass nicht alleine die ökonomischen Parameter, wie Umsatz, Kundengröße, etc den Lead User status ausmachen, sondern die Anforderungen, die diese Nutzer an ein Produkt stellen, und der Besonderheit ihres Anwendungsszenarios.

Nutzen einer Produktentwicklung nach dem Lead User Konzept

von Hippel zitiert mehrere vergleichende Studien, in denen er untersucht hat, inwieweit die Produktentwicklung nach einem Lead User Konzept ökonomisch sinnvoll ist. Er kommt zu folgenden, durchweg sehr positiven, Ergebnissen:

  • Produktentwicklungen mit Lead Usern bringen mehr neue Ideen hervor, als Produktentwicklungen nach konventionelle Methoden,
  • Sie zielen auf mehr originale und neuere Kundenanforderungen ab,
  • Sie führen zu einem höheren Marktanteil,
  • Sie haben ein größeres Potential, sich in eine Produktline weiterzuentwickeln, und sie sind strategisch besonders wichtig

Ökonomisches Potential

Zusammenfassend haben Produktkonzepte, die mit Lead Usern erarbeitet werden ein weitaus größeres kommerzielles Potential, als es die Produktkonzepte haben, die aus herkömmlichen Ansätzen entstanden sind.

Hier seine eigenen Worte

Product concepts generated by seeking out and learning from lead users were found to be significantly more novel than those generated by non-LU methods. They were also found to address more original or newer customer needs, to have significantly higher market share, to have greater potential to develop into an entire product line, and to be more strategically important. The lead-user-developed product concepts also had projected annual sales in year 5 that were greater than those of ideas generated by non-LU methods by a factor of 8—an average of $146 million versus an average of $18 million in forecast annual sales. Thus, …, lead user idea-generation projects clearly did generate new product concepts with much greater commercial potential than did traditional, non-LU methods – Eric von Hippel (2005)

Die Krone der Schöpfung

Quasi die Krone der Schöpfung sind Lead Users im fortgeschrittenen analogen Marktumfeld

Besonders anspruchsvoll – und daher in von Hippel’s Sinne im Hauptinteresse eines Produktentwicklungsprozesses – sind zudem nicht nur die Lead User im eigenen Marktumfeld, sondern es sind vielmehr die Lead Users in einem weiter fortgeschrittenen analogen Marktumfeld (‚advanced analog field‚). Diese haben noch weitaus extremere Einsatzanforderungen, d.h. sind u.U sogar noch anspruchsvoller.

Zum Beispiel: von Hippel nennt als Beispiel einen Bremsenhersteller für KFZ. Dessen unmittelbare Lead User finden sich im Kreise der Automobilhersteller. Da jedoch die Bremsen eine Flugzeuges einer weitaus höheren Belastung ausgesetzt sind, zählen die Lead User in der Flugzeugentstandhaltung zum letztgenannten Lead User Typus, weil sie noch wesentlich extremere Einsatzbedingungen haben. Um sinnvolle Lösungen zu entwickeln, sollte der Bremsenhersteller deshalb in Kontakt kommen mit den Lead Usern in der Flugzeuginstandhaltung.

Wie identifiziert man Lead Users?

Traditionelle Produktentwicklungsprozesse sind darauf aus, Kundenbedarfe zu erheben, die dann über eigene Entwicklungen abgedeckt werden können. Hierbei sind insbesondere die Anforderungen von Interesse, die diese Zielkunden an eine Problemlösung stellen.

Traditionelle Entwicklungsprozesse beginnen normalerweise damit, dass die Produktmanager des Herstellers die Kunden in den jeweiligen Zielmärkten studieren, um dort unbefriedigte Bedürfnisse zu ermitteln. Die Produktentwickler verwenden später dann genau die erhobenen Anforderungen, um ein hierzu passendes Produkt zu entwickeln.

Da Lead User oft nicht zu den Kunden im Zielmarkt gehören, sind sie normalerweise nicht im Fokus einer solchen Marktforschung. Auch liegen genau die Lösungen nicht im Zentrum des Interesses einer konventionelle Marktforschung, die sie entwickelt haben, und wodurch sie sich auszeichnen. Lead Users können deshalb nicht über die konventionelle Marktforschung ermittelt werden.

Lead Users, und insbesondere die besonders interessanten fortgeschrittenen Lead Users in einem analogen Markt sind normalerweise nicht einfach zu finden. Neben dem screening, d.h. dem systematischen Durchsuchen einer größeren Population, kann die Methode des Pyramiding verwendet werden.

Das Pyramiding Verfahren basiert auf einem modifizierten Schneeballsystem. Hier hangelt man sich von den eigentlichen Entwicklern weiter zu den noch fortgeschrittenen Entwicklern, indem man die Entwickler jeweils bittet, noch versiertere Experten anzugeben. Das Suchsystem vertraut darauf, dass Leute mit seltenen Interessen oder Attributen normalerweise andere Leute kennen, die so speziell sind, wie sie selbst.

Weitere Alternativen

Hier noch weitere Alternativen zum Auffinden solcher Experten mit Lead User Eigenschaften

  • Suchen über das Internet,
  • Auswerten von problemorientierten Online Foren, in denen Lead Users technische Informationen über ihre Lösungen austauschen,
  • Erstellen und Unterhalten von speziellen rendevouz-sites im Internet, d.h. problemorientieren Websites, auf denen sich Experten austauschen. Die Site könnte vom Produktmanagement betrieben sein.

Empfehlung

Einige Empfehlungen aus der  Praxis:

  1. Ich empfehle Ihnen, dass auch Sie Ihre nächste Produktentwicklung einmal nach den hier vorgestellten Prinzipien der Lead Users organisieren. Ich habe mit dieser Methode ebenfalls positive praktische Erfahrungen gesammelt. Aus meiner Sicht ist der Nutzen auch in praktischen Softwareprojekten so signifikant hoch, wie von von Hippel wissenschaftlich beschrieben.
  2. Sollten Sie die Arbeit mit Lead Usern institutionalisieren wollen, sollten Sie daran denken, User Groups zu gründen (ggfs im Internet), mit denen Sie regelmäßig zusammenarbeiten können.
  3. Weiter hinlege ich Ihnen die Lektüre von von Hippel nahe.  Um Ihnen die Einordnung zu erleichtern: von Hippel’s Buch passt inhaltich sehr gut zu dem Business Bestseller → Wikinomics – Die Revolution im Netz (D. Tapscott und A.D. Williams, 2007 München), das ich Ihnen im März vorgestellt habe. Neben der Produktentwicklung mit Lead Usern, die ich hier besprochen habe,  geht er auf weitere interessante Themen im Umfeld von kooperativer Produktentwicklungen ein. Er hat einige seiner Bücher unter der Creative Commons License freigeben. Sie finden das hier verwendete Buch Democratizing Innovation Eric von Hippel, MIT Press, 2005 kostenfrei wie folgt

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Das Original dieses Artikels ist auf Der Produktmanager erschienen (©Andreas Rudolph). Regelmäßige Artikel gibt es über die (→Mailingliste), oder indem Sie →mir auf Twitter folgen. In der Online Version finden Sie hier die versprochenen weiterführenden Links:

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